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62 Jahre danach

vaterundsohn

Abschied an Weihnachten 1942

1941 in den wahnwitzigen Krieg gegen die Sowjetunion geworfen, kam mein Vater Ende 1942 von Woronesh auf Kurzurlaub nach Hause zu seiner geliebten Frau und Familie. Er war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt. Er sprach wohl nicht sehr viel über den tausendfachen Tod, die Ängste, den Hunger und die eisige Kälte. So berichtete mir noch im vorigen Jahr seine Schwägerin, meine Pflegemutter und Tante, die im Alter von 93 Jahren am 7. Februar 2007 verstarb. Als er jedoch nur wenige Tage nach diesem Weihnachtsfest erneut den schweren Weg gen Osten antreten mußte, verließ er die Lieben mit Wehmut im Herzen. "Ich komme nicht wieder, Schwägerin. Kümmere Dich um meine Anni, kümmere Dich um meinen Sohn". Ich war auf dem diesem letzten Foto, das mich zusammen mit meinem Vater zeigt, gerade einmal zwei Jahre alt. Wenige Wochen später bereits - im März 1943 - erreichte meine Mutter der Brief eines Kameraden, in dem ihr nur kurz mitgeteilt wurde, daß er nach einer schweren Schlacht bei Kandorovka, seit dem 27. Januar 1943 vermißt werde. Alle Nachforschungen seien ergebnislos geblieben. Meine Mutter und mein Großvater versuchten verzweifelt bis an ihr Lebensende, den Verbleib meines Vaters in Erfahrung zu bringen. Meine Mutter verstarb 12 Jahre nach diesem Schicksalschlag im Alter von 49 Jahren.

Die Wende

47 Jahre lang hatte ich nach dieser Vermißtenmeldung keinen Anhaltspunkt über das Schicksal meines Vaters oder auch nur für eine gezielte Suche. Die unter Gorbatschow in der Sowjetunion vollzogenen politischen Veränderungen führten jedoch im Jahre 1990 zu einer Neuordnung der Beziehungen zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Bundesrepublik Deutschland. In dem "Vertrag der guten Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit.." wurde die Kriegsgräberfrage als ein zu lösendes Problem erwähnt. Die Regierungen der Unionsrepubliken wollten danach nicht nur den Zugang zu deutschen Gräbern gewährleisten, sondern diese Stätten auch erhalten und pflegen. 1993 wurde zwischen der Bundesrepublik Deutschland und allen GUS-Republiken ein Kriegsgräberabkommen geschlossen, das lediglich von Belorussland nicht ratifiziert wurde. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß mit diesem Vertrag sowjetische Archive geöffnet wurden, in denen Unterlagen über Kriegsgefangene vorhanden sind.

Als ich davon im Jahre 1999 erfuhr, wandte ich mich sofort an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Im Jahre 2001 hielt ich das entscheidende Schreiben über das Schicksal meines Vaters in der Hand: Er hatte die Kämpfe offenbar unverwundet überstanden, war nach kilometerlangen Märschen, hungernd und mit letzter Kraft in ein eilends in dieser Region errichtetes Lager eingeliefert worden. Bereits fünf Wochen danach war er bei hohem Fieber und Ruhr im Lazarett ohne jegliche Medikamente verstorben. Junge Frauen der Umgebung zogen im Winter täglich -zig Tote auf Schlitten, später im Jahr auf Karren zu einem Massengrab, wo sie unter Bewachung von den eigenen Kameraden beerdigt wurden.

Ehrendes Gedenken

Solange ich zurückdenken kann, haben mich die Persönlichkeiten meiner beiden Elternteile in den Bann gezogen. Mein Vater war optimistisch, gut aussehend, tatkräftig und vertrat geradlinig seine Meinung. Äußerst hilfsbereit war er zu Freunden, die seiner Hilfe bedurften. Er hatte die Lehre eines Speditionskaufmanns abgeschlossen und unterstützte seinen Vater bei der Porzellanproduktion.

Die Mutter war eine bildhübsche, gebildete Frau (ihr Foto aus 1939). Sie war lebensfroh, arbeitete gern in ihrem Beruf als Bankangestellte und war überaus gütig. Ihre Freundinnen baten sie oft um Rat in scheinbar ausweglosen Situationen. Sie war äußerst beliebt. Ihre Sorge galt mir, dem einzigen Sohn. Dies trifft besonders ab dem Augenblick zu, als ihr bewußt wurde, daß es ihr nicht vergönnt sein würde, die Phase meiner Berufsvorbereitung zu erleben.

Warum lassen wir zu, dass unser Glück zerstört wird?

Wenn man davon ausgehend darf, dass Glück ein Leben unter menschenwürdigen Verhältnissen und im Bewußtsein von innerer Zufriedenheit über gute Taten und Erfolgserlebnisse sei, dann nimmt der Frieden den höchsten Rang ein. (Immanuel Kant). Wird dieses Prinzip der Friedenswahrung gebrochen, kommt es zwangsläufig zu den größten menschlichen Tragödien. Es scheint so, als ob es immer wieder möglich ist, Menschen dazu zu verleiten, den mehrdeutigen Begriff 'menschenwürdig' fehl zu interpretieren und eine Besserung von Verhältnissen auf Kosten anderer Menschen, religiöser Gruppen oder Völker herbeizuführen.

Dies ist in jedem Fall zum Scheitern verurteilt. Den Menschen, die diesem Einfluß dennoch nachgeben, mögen die folgenden Schilderungen vom Schicksal der in den Krieg getriebenen, guten Menschen eine permanente Mahnung sein.

Sammeln von Daten über das Lager

Wenn man erst einmal die Information verkraftet hat, dass der vermisst geglaubte Vater noch lebte, dann kommt Bitternis auf, warum ihm denn keiner geholfen hatte, auch noch die anschliessende Zeit als Gefangener lebend zu überstehen. Er war doch ein so guter Mensch, wir hatten seiner so sehnlich bedurft. Dann wollte ich es genau wissen, möglichst einen seiner Kameraden finden, der heute noch lebte, um ihn zu befragen. In dieser Situation half mir der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Vorsichtig und zögerlich wurde mir bedeutet, daß ein Überlebender dieses Lagers existiere. Aber zunächst gab es keinen Weg, um ihn anzusprechen. Doch die guten Argumente überwogen, ich traf Rudi.

Rudi

Zum Schutze seiner Persönlichkeitssphäre wird hier nur ein Vorname erwähnt. Alles erscheint mir heute wie ein Wunder. Nach Einwilligung in die Kontaktaufnahme standen wir in der Tat einem Kameraden meines Vaters gegenüber, der ihm zwar nicht begegnet war, aber im selben Lager dieselben Qualen durchlebte. Wir sprachen bis in die tiefen Nachtstunden, vergaßen alles um uns herum. R. hatte nie Gelegenheit gehabt, viel zu schreiben. Zur Bewältigung seiner schlimmen Kriegserfahrungen hatte er ein Buch von solch ergreifender Klarheit geschrieben wie ich es bis heute nicht las. Er bewahrt es als geistiges Vermächtnis für seine Kinder. Ihm zur Seite steht seine treue, überaus liebe Frau. Wir hatten wahre Freunde gefunden. (Rudi und Elfriede)

Reisevorbereitungen

Ich teilte meine Absicht zur Reise nach Russland einem meiner Freunde mit. Obwohl mitten im Arbeitsleben in einer herausfordernden Aufgabe, nahm er sich sofort des Anliegens an. Er fragte wiederum einen seiner Freunde, der die russische Sprache beherrschte, ob er teilnehmen werde. Es gab kein Zaudern. Zu Dritt bereiteten wir uns vor, studierten Landkarten, Webauftritte in der Föderation, Flug- und Zugpläne. Von unterschiedlichen Orten Deutschlands starteten wir unser Vorhaben und landeten am 20. Mai 2005 auf dem Flugplatz Domodjedowo bei Moskau. (Nadja, unsere Moskauer Perle)

Erlebnisbericht

Wir waren in Moskau und Lebedjan. Einhellige Meinung ist, daß wir die drei Tage in Lebedjan nie vergessen werden. In sengender Sonne wanderten wir täglich bis zu 15 km, um anhand von Aufzeichnungen die zunächst als nicht existent bezeichnete Ruhestätte der Kriegsgefangenen und damit auch die meines Vaters zu finden. Am zweiten Tag abends hatten wir - dank der Unterstützung des örtlichen Museums - Gewißheit über die geographische Lage und das heutige Aussehen des riesigen Grabes und des ehemaligen Lagers. Doch lesen und schauen Sie selbst. hier